Nun war es also soweit. Es gab kein Zurück mehr. Die peruanische Liebste freute sich schon seit Monaten und zunehmend mehr, je näher die Abreise rückte: es sollte - in Anbetracht dessen, wie lange ich schon mit ehemaligen Einwohnerinnen dessen Umgang pflege und es ist wohl zu ergänzen: endlich ins Land der Inka, Llamas, Cholos, neongelber "Kola", instabiler Regierungen, artenreichsten Fauna und mit (einer) der besten Küche(n) der Welt, nach Peru, gehen.
Ich selbst sah dem Reisebeginn mit gemischten Gefühlen entgegen, denn ich hasse ja reisen, erwähnte ich das? Also nicht verreist sein, an Sehnsuchtsorten und in Fernen, die mich anrühren, angekommen sein, DAS ist selbstredend famos und ein Blog darüber schreiben wäre sonst auch reichlich bizarr. Aber den leidigen, stressigen, unkommoden Prozess des Hingelangens, den dann doch.
Der Flieger zur Zwischenstation Madrid sollte um 8 Uhr abends abheben und um der Bahn keinerlei Sabotagegelegenheiten zu bieten, bestand die Liebste darauf, den Flughafen jenes armseligen, minderbemittelten, an einem schäbigen Flüsschen gelegenen Dörfleins im Norden Kölns im Automobile zu erreichen, welches sie, bekannt patent im Umgang mit moderner Fernmeldetechnologie, per Applikation zu heuern gedachte. Um aber zu jenem fortschrittlichen Fahrzeug zu gelangen, welches in Köln-Weiden unserer Inbeschlagnahme harren sollte, nahmen wir dann doch noch ganz altmodisch einen ranzigen Bus ab Frechen.
Angekommen am Flughafen gestaltete sich der weitere Reiseverlauf recht glimpflich und ich kann und muß dem geneigten Leser keine der üblichen Horrorerzählungen zumuten. Wir erreichten Madrid pünktlich, der Umstieg samt Terminalwechsel klappte reibungslos (bis auf daß die Liebste fast in einen Raufhändel geriet mit einem mit dem Argument, daß er alt sei, dreist vordrängeln wollenden Oppa) und auch der Flug nach Lima war weniger schlimm als möglich; ich hatte einen Platz ganz hinten, die Dreiersitzreihe teilte ich mit einer flegelhaften und unmanierlichen aber immerhin platzsparenden Halbwüchsigen, die den Großteil der Zeit pennte, zum Teil zutraulich an mich geschmiegt und die Flugzeit von 12 Stunden kam mir dank einiger Stunden komatösen Dahindämmerns weniger quälend lang vor, als sonst schon einmal.
In Lima angekommen, Ortszeit ca. 5 Uhr morgens, stand ich 50 Minuten wachdämmernd Schlange, um ins Land eingelassen zu werden, während die Liebste in der Einheimischenschlange schneller voran kam. Am Kofferband trafen wir einander und nach geraumer Zeit auch unser Gepäck wieder und am Ausgang erwarteten uns schon, die peruanische Flagge schwenkend, Milagros, die die Liebste seit der Kindheit kennt, und ihr Mann Jorge, die uns entzückenderweise nicht nur mit dem Auto abholten sondern auch gleich nach Lima kutschierten und, bevor sie uns bei unserer Bleibe absetzten, zum deftigen peruanischen Frühstück einluden (in Lima waren es da ca. 7 Uhr): Chicharones! (s. Essen in Peru).
Auf der ca. einstündigen, sehr verkehrsdichten und stockenden Fahrt in die Stadt erfuhr ich, nicht nur hinsichtlich der peruanischen Verkehrsteilnahmegewohnheiten, den ersten Kulturschock. „Boah, ist das hier häßlich!“ dachte ich ein ums andere Mal.
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Die Häßlichkeit entsteht hier durch zunächst einen allgegenwärtigen Hintergrund von Grauheit – die Stadt heißt sogar „Lima la gris“ – der Himmel hat durchgehend die Farbe von Blei und Asche und über allem liegt eine Art grieseliger, farberstickender Schleier. Die Straßen sind schlecht und vollgestopft, es ist überall schmutzig, Müll liegt herum, alles ist abgestoßen und zernutzt, staubig, schmuddelig und heruntergekommen. Es gibt keinerlei durchgehenden Baustil, anscheinend nicht einmal irgendwelche Bauvorschriften, alle Arten von Häusern in unterschiedlichen Höhen, Graden der Fertigstellung, Stilen, Farben und Formen stehen durcheinander mit ganz entschiedener Absage an auch nur den geringsten ästhetischen Anspruch. Dadurch wirkt alles wie einer hastigen, ungeordneten Bedürfnisbefriedigung geschuldet: „wir brauchen jetzt! ein Haus, da ist Platz, los, bauen wir eins hin; da liegen noch Steine rum, die müssen weg, nimm die; und wenn sie oder das Geld Dir mitten in der dritten Etage ausgehen, scheißegal, laß es so, dann kann da schon wer einziehen, falls Geld reinkommt, machen wir später weiter, zur Not mit anderen Steinen, oder Holz, oder mit wat wech muß“
Und so stehen diese elenden Bauten nahe an den stinkenden, lärmtosenden und völlig überlasteten Straßen und Menschen wohnen darin, die zwei Stunden mit den hier allgegenwärtigen aberwitzigen und überfüllten Bussen, in die man noch im Fahren hineinspringen muß und die in Deutschland sofort auf den Schrott bzw. ins Technologiemuseum kämen, zu ihrer schlecht bezahlten Arbeit irgendwo in Lima fahren müssen. Dann erreichten wir die Küstenstraße und zur Seite erstreckte sich der mächtige Pazifik. Doch nicht einmal dieses gewaltige Meer konnte den Eindruck verbessern, so grau und trist wie es unterhalb der schmutzigen Steilküste Limas und seinem grauen Himmel dalag und mehr Schwermut als Majestät oder Pracht ausstrahlte. Mein erster Eindruck war also wirklich deprimierend, aber ich empfand auch Mitgefühl für die Menschen, die hier leben müssen. 11 Millionen – jeder dritte Peruaner, ach Du großer Darwin! So waren meine allerersten Eindrücke von Lima und ich war gespannt, wie sie sich mit der Zeit differenzieren würden.
Unser sehr schönes, modernes, sauberes und regelrecht chiques AirBnB-Appartment, das von „Danna“, der Frau des Vetters der Liebsten verwaltet wird, lag in Miraflores, einem der besseren Barrios Limas. Nachdem Milagros erst Jorge bei der Arbeit und dann uns gegen ca. 9 Uhr morgens dort abgesetzt hatte, machte ich zwei Stunden die Augen zu, während die flugzeugschlafhalber nicht ganz so geräderte und aufgekratzte Liebste gleich loszog, um uns peruanische SIM-Karten zu besorgen. Gegen 11 Uhr, fest entschlossen, dem Jetlag ein Schnippchen zu schlagen, zogen wir eisern und diszipliniert los, um uns Miraflores zu erlaufen.
Wir verbrachten die Tage in Lima damit, herumzulaufen und die Stadt auf uns wirken zu lassen, Verwandte und Freunde der Liebsten, u.a. ihre Eltern, zu treffen, mit ihnen zu essen, auswärts oder bei ihnen zu Hause, oder uns kundig die Stadt zeigen zu lassen. Einige Strecken konnten wir zu Fuß erledigen, andere Distanzen waren zu weit oder führten durch zu gefährliche Bereiche, so daß wir auf Fahrzeuge umsteigen müssen.
Apropos: Das gigantische Lima hat keine Metro und nur eine Straßenbahnlinie. Der ÖPNV findet also größtenteils auf den verstopften Straßen statt, dort fahren unzählige Ubers, Taxis, Mikrobusse, Kombis (hier als „Combi asesino“ bekannt), Mototaxis und private Chauffeure herum, in teils abenteuerlichen Zuständen und selbst einige der offiziellen Taxifahrzeuge waren derartig ramponiert, daß sie aussahen, als wären sie nach 10 Jahren Crash-Car-Rennen auf dem Weg durch ein Kriegsgebiet durch die ein oder andere Panzersperre gebrochen. Vor allem aber fährt der Limeño, der sich in Lima über weitere Strecken fortzubewegen wünscht, mit einem der vielen Busse. Dabei handelt es sich um antike, unverwüstliche (wobei es meist offenbar an Versuchen nicht gemangelt hat)) und überaus dezibelstarke Dieselmonstren, deren Fahrer ihre verbeulten Stücke Altmetalls zum Zusteigen nur unbeträchtlich verlangsamen. Dafür kann man irgendwo am Straßenrand die Hand heben und sie lassen einen im Vorbeifahren an Bord springen, die Türen während der Fahrt zu schließen, fällt Ihnen nur hin und wieder ein, man soll sich eben festhalten, wenn man nicht durch den Salon oder gleich auf die Straße zu kollern wünscht, wenn der Bus durch einen der zahlreichen Kreisverkehre schleudert. Drinnen ist alles staubig, siffig, aufgeplatzt, abgeblättert, bekritzelt und zerschrammt,
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es riecht nach Abgasen, die aus den immer offenen Fenstern hineinziehen, aus einem Lautsprecher mit gerissener Membran quäkt laute Latinomusik gegen den durchdringenden, brüllenden Dieselbass an und auf den wenigen Sitzen hocken erschöpfte Menschen mit geschlossenen Augen, die Köpfe während der langen, holprigen Fahrt an die speckigen Fenster gelehnt. Die Fahrpreise sind extrem günstig und manchmal kommt zum Kassieren ein eigener „Cobrador“ vorbei, dem man sagt, wohin es gehen soll und ihm dafür die entsprechenden Münzen in die schwielige Hand drückt. Natürlich fahren die Fahrer wie Wahnsinnige, um sich im wahnsinnigen Verkehr Limas zu behaupten, bremsen maximal 5 mm vor dem nächsten Auto, brettern über Bodenschwellen mit einer Geschwindigkeit, die ihren Bus gerade noch nicht zerstört, aber die Fahrgäste in ihren Sitzen lustige Hopser machen lässt, drängeln, hupen, fluchen. Will man aussteigen, kann man das auch mitten im Verkehr tun, wenn der Bus gerade steht, indem man „baja baja“ schreit, woraufhin der Fahrer die Tür öffnet und einen auf die Straße springen lässt. In Deutschland würde jeder dieser Busse sofort von einem ungläubig lachenden TÜV-Prüfer auf den Schrottplatz geschickt und danach sicherheitshalber noch der Schrottplatz verschrottet, den Fahrern würde man wegen erwiesenen und gemeingefährlichen Irrsinns sofort die Lizenz entziehen. Hier aber funktioniert es, hier hat der Wahnsinn Methode. Natürlich gibt es keine Fahrpläne, der Bus kommt, wenn er kommt und in der Rush-Hour dauert eine Strecke von 10 km locker 50 Minuten. Allerdings und das sei hier ehrbezeugend betont, brauchten wir am Morgen des letzen Tages der ersten Lima-Episode mit einem Taxi nur 35 Minuten zum Flughafen – da kannste nix sagen!
Hier noch ein paar mehr Eindrücke nach etwas mehr Zeit in Lima: Ich schicke vorweg, daß ich mir natürlich nicht einbilde auch nur annährend eine umfassende Vorstellung dieser fast 10 Mio.-Metropole zu haben, ich weiß auch nicht, wie lange man dafür brauchen würde und selbst die Liebste, die 20 Jahre hier lebte, hat bei Weitem nicht alles von Lima gesehen. Also, was folgt ist nur ein kleiner Ausschnitt, mein persönlicher Blick durch ein kleines Fensterchen auf Lima:
Peru ist ein ehemaliges Entwicklungs- jetzt Schwellenland und auch in seiner Hauptstadt und dort auch in den „besseren Vierteln“ merkt man das immer wieder und ich, der ich noch kein Land dieser Kategorie bewußt bereist hatte, mußte mir das immer wieder bewußt machen.
Auch in Miraflores sind viele Straßen und Bürgersteige alt und schadhaft, alles ist durcheinander, alle machen ihre eigenen Regeln, ob im Verkehr oder beim Bauen. Die Stromleitungen verlaufen hier in völlig abenteuerlichem, chaotischem Gewirr zwischen Pfählen und Häusern oberhalb der Straße, überkreuzen sich, bilden Knäuel und Knoten und es grenzt an ein Wunder, daß nicht andauernd Funken sprühen, der Strom ausfällt und Leute von Blitzen erschlagen werden.
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Aber ich war und bin auch beeindruckt und angerührt von dem Nichtverzagen und dem stoischen Ertragen, der Peruaner spricht von „aguantar“, das ich vielen Menschen hier ansah. Jeder versucht hier irgendwie über die Runden zu kommen, sei es die uralte, zahnlose Oma, die in einem dieser hier allerorten anzutreffenden winzigen Verkaufsbüdchen sitzt in der Hoffnung, irgendjemandem Bananenchips, warme Cola oder uralte Plätzchen für ein paar Cent verkaufen zu können. Sei es der fliegende Geldwechsler mit seiner verschossenen gelben Weste, in deren Taschen sich Dollar, Euros und speckige Soles befinden und bei dem man zu einem fairen Kurs sein Geld tauschen kann und um das Vertrauen in die von ihm ausgegebenen Banknoten zu erhöhen, stempelt er jede einzelne von ihnen mit seinem persönlichen Stempelchen ab, so kann man, falls sich eine davon als gefälscht herausstellen sollte, zu ihm zurückkommen und sie umtauschen. Seien es die ebenfalls überall herumsitzenden „Wachimanes“ (von „watchmen“), einige davon gerade einmal handpuppengroß
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die für Geschäfte, die sich deren sicher nicht teuren Dienste leisten können, für Sicherheit sorgen sollen und so stumpfsinnig jeden Tag stundenlang auf Hockern vor den Läden ihre Zeit absitzen. Phantastisch fand ich es, daß man fast zu jeder Stunde, fast alles, was das Herz begehrt von den unzähligen fliegenden und fahrenden Händlern, seien es Teilchen, Choclo con queso, Anticuhos, Empanadas, Churros, aber auch Touristentinnef oder was auch immer es sei, erwerben kann. Die „informelle“ Wirtschaft in Perú muß gigantisch sein.
Wir waren in verschiedenen Vierteln Limas, Miraflores, Callao, Breña, Barrancos, Lima Zentrum und La Molina unterwegs, die ganz schlimmen und gefährlichen haben wir ausgespart, aber eine klare Korrleation war doch zu erkennen: Je „ärmer“ das Viertel bzw. seine Einwohner im Schnitt, desto prekärer, unordentlicher, anarchischer war es dort. So zum Bespiel sieht es in Breña aus, dem „barrio“, in dem die Liebste damals aufwuchs:
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Natürlich ist es nicht überall in Lima so und gibt es auch ein paar alte, koloniale Prachtbauten, Straßen und Plätze, die nicht heruntergekommen und verstopft mit Autos und Straßenhändlern sind. Als beflissene Touristen (wozu ich die Liebste auch rechnen würde) haben wir uns natürlich auch
den Malecon,
die Plaza de Armas,
die Plaza de St. Martin,
die Iglesia de la Merced
angesehen.
Allerdings sind auch einige offizielle Bauten und Einrichtungen in eher fragwürdigen Zustand:
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Mit abertausenden von Schritten haben wir jedenfalls versucht, uns einen nicht völlig oberflächlichen Eindruck Limas zu erlaufen, wohl wissend, daß die richtig elenden Viertel und regelrechten Slums nicht Teil dieses Eindrucks wurden, auch die „Mauer der Schande“ haben wir nicht gesehen.
Nicht so schön war, daß mich am vorletzten Tag der ersten Lima-Episode noch Atahualpas Rache traf (die Liebste dann einen Tag später). Ich hatte zwar drauf geachtet, nur Wasser aus Flaschen zu trinken, hatte aber dummerweise mit Leitungswasser die Zähne geputzt bzw. irgendwo Salat gegessen. Und was ich mir mit damit in meinen verteidigungslosen, schwächlichen Gringo-Europäerleib holte, bescherte mir ungezählte Aufenthalte in gekachelten Räumen, erhebliche Dehydrierung und am Ende mußten Immodium und Rifaximin eingeworfen werden, um dem Einhalt zu gebieten. So ging uns auch ein Tag verloren, den wir ansonsten einem Museumsbesuch hätten widmen wollen.
Kurz nach einem beträchtlichen Erdbeben
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kehrten wir von unsere Reise durch den Süden Perus nach Lima zurück. Wir verbachten aber gar nicht mehr so viel Zeit in der Stadt, da es einen Tag nach der Rückkehr gleich nach Ica und zu den Nazca-Linien ging. Von dort zurück, hatten wir noch einen schönen, entspannten und freien Pärchen-Tag in Lima, den wir u.a. mit einem ausgedehnten Spaziergang über den Malecon verbrachten: auf diesem Weg entlang der Steilküste, hoch über dem Strand mit weitem Blick auf’s Meer ist es wirklich schön:
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Danach mußte ich jobhalber in die USA fliegen: die Liebste begleitete mich spätabends zum Flughafen, wo abermals alles reibungslos klappte und als ich schließlich durch die Sicherheitskontrolle ging, ließ die Liebste schweren Herzens in ihrer Geburtststadt zurück…
Fazit 1: Mir hat die Zeit in Lima gefallen; ich mußte mich aber erst eingewöhnen, eingrooven, der Kontrast zum Bekannten ist doch recht harsch - es ist dort chaotisch, laut, voll, komplex, niemals langweilig, niemals still, Lima ruht nicht, unendlich viele Eindrücke stürmen auf einen ein, vieles ist ganz anders als zu Hause bzw. auch in den meisten europäischen bzw. „westlichen“ Ländern, einiges ist aber auch ganz ähnlich.
Fazit 2: Perú ist krass. Diese Reise war eine tolle aber auch heftige Erfahrung. Perú ist wahnsinnig vielseitig, komplex, voller Widersprüche und Unverständlichkeiten. Es ist kantig und kann Touristen hart rannehmen (hat es bei uns getan), aber es gibt dort auch so viel Schönes, Überwältigendes, Anrührendes und so viel Herzlichkeit und Wärme, daß man es schließlich doch immer liebgewinnen wird und zurückkehren will.
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